Unter der Ãœberschrift „Bewußter Luft holen“ veröffentlichte die Apotheken-Umschau am 17. Mai 2017
einen Artikel über den Atem und das Atmen, zu dem ich auch ein wenig beitragen konnte.
Hier der Wortlaut des Artikels:
Ein, Pause, aus, Pause. Ein, Pause, aus, Pause. Das ist der Rhythmus unseres
Lebens. Sechs, sieben Minuten lang kann Robert Woltmann aus München
diesen Takt aussetzen. Er nimmt dann einen tiefen Atemzug, taucht unter
Wasser und nutzt den Luftvorrat in seinem Körper bis zur Grenze aus. Sechs,
sieben Minuten lang fühlt es sich dann für ihn so an, als würde er aus der
Zeit treten: „Man ist ganz im Moment, in einem zeitlosen Zustand.“ Ein
Zustand, den der Apnoetaucher, ein Taucher ohne künstlichen Sauerstoff,
mehr und mehr in die Länge ziehen will. „Etwa drei Minuten nach dem
Abtauchen“, erzählt Woltmann, „setzt ein unglaublicher Atemreiz ein. Aber
man kann trainieren, dass dieser Reiz nicht so schnell und nicht so hart
kommt.“
Doch nicht nur diesen Reiz will er bewusst aushalten. Nach einigen Minuten
ohne Luft beginnt das Zwerchfell zu zucken, die Haut verfärbt sich rötlich
blau. „Irgendwann fühlt sich alles an wie im Traum, die Realität verschwindet
aus dem Kopf, alles wird leicht“, sagt Robert Woltmann. Das Signal, dass der
Sauerstoffmangel zu groß wird, dass der Extremsportler sein Limit erreicht
hat. Jetzt muss er schnellstens auftauchen, um nicht das Bewusstsein zu
verlieren – und zu ertrinken.
Eine besondere Körperfunktion
Ohne Nahrung kann der Mensch ein paar Wochen überleben. Ohne Wasser
immerhin ein paar Tage. Ohne Atemluft hingegen – selbst als trainierter
Apnoetaucher – nur wenige Minuten. Jede Zelle unseres Körpers benötigt den
lebenspendenden Sauerstoff, und zwar ununterbrochen. Rund 20 000 Mal
atmen wir deshalb pro Tag – von unserer Geburt bis zum Lebensende.
In der Zeit dazwischen stockt uns der Atem, haben wir einen langen Atem,
atmen wir erleichtert auf oder nehmen uns gegenseitig die Luft zum Atmen.
Manchmal machen wir unserem Ärger Luft, leiden unter einer erstickenden
Atmosphäre oder erleben atemberaubende Momente. In der
Umgangssprache drückt sich aus, was wir täglich beobachten können: Unser
Atem reagiert wie ein Seismograf auf Handlungen, Gefühle und äußere
Umstände. Ganz unwillkürlich passt er sich den Gegebenheiten an.
Und doch können wir ihn willentlich verändern. Während sich viele Vorgänge
im Körper – Herzschlag, Verdauung, Harndrang – nicht kontrollieren lassen,
können wir die Atmung lenken. Zwar wird der Körper dank des vegetativen
Nervensystems auch ohne aktives Zutun mit Sauerstoff versorgt und von
Kohlendioxid befreit. Der Mensch holt quasi automatisch Luft. Zusätzlich
kann er aber bewusst eingreifen – und damit die Wirkung des Atmens
verändern.
Raus aus der Esoterik-Ecke
Denn ob wir schnell atmen oder langsam, tiefe Atemzüge machen oder nur
wenig Sauerstoff tanken – all das beeinflusst den gesamten Organismus und
unsere Gesundheit. Seit mehr als 4000 Jahren gehören Atemübungen
deshalb zu medizinischen Anwendungen, religiösen Ritualen, spirituellen
Praktiken. Im modernen Gesundheitssystem wurde die Arbeit mit der
Atemluft lange Zeit in die esoterische Ecke gestellt. Doch mehr und mehr
finden Atemtherapien ihren Platz in Prävention und Behandlung. Sie sollen
körperliche Beschwerden ebenso lindern wie psychische Erkrankungen.
In München beispielsweise bietet die Psychotherapeutin Cornelia Roth ein
Verfahren an, das sich Atempsychotherapie nennt. „Was wir erleben,
beeinflusst den Atem. Und wie viel Raum sich der Atem nehmen kann, wirkt
sich auf das Erleben aus, den Körper, auf Gefühle, Denken, Handeln“, so
Roth. Der Atem als körperliche Funktion, die stark mit seelisch-geistigen
Vorgängen verbunden sei, eine Brücke zwischen Bewusstsein und
Unterbewusstsein.
Wissenschaftliche Studien belegen, was Roth schildert: Die Brücke hilft
Menschen mit Beziehungsstörungen, Burn-out- Symptomen, depressiven
Verstimmungen oder Ängsten. Auch bei psychosomatischen Erscheinungen
wie chronischen Schmerzen, Tinnitus oder Bluthochdruck hat sich die Arbeit
mit dem Atem bewährt. „Häufig verdrängen wir Probleme oder identifizieren
uns zu stark mit ihnen“, erklärt Therapeutin Roth. „Mithilfe des Atems lernt
man, den richtigen Abstand einzunehmen.“ Außerdem helfe er dabei, eine
angemessene Spannung oder Entspannung zu erreichen. In depressiven
Phasen kann er aktivieren, in stressigen Zeiten beruhigen.
Atemlose Gesellschaft
Bei Übungen im Stehen, Sitzen, Liegen oder Gehen lädt Cornelia Roth ihre
Patienten ein, den eigenen Atemfluss genau wahrzunehmen. Nichts erreichen
zu müssen, mit sich selbst in Berührung zu kommen, den Körper intensiv zu
spüren. Eine Erfahrung, die sehr heilsam sein könne, meint Roth, gerade im
hektischen Leben dieser Zeit: „Heutzutage sind die Menschen im wahrsten
Sinne des Wortes atemlos.“
In einem noch wörtlicheren Sinn könnte das auch Georg Dumberger über
seine Klienten sagen. In der Klinik Bad Reichenhall arbeitet der
Physiotherapeut mit Atemwegspatienten. Sie leiden an Asthma,
Lungenfibrose oder der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD)
und den damit verbundenen, oft massiven Beschwerden. „Die Lebensqualität
der Erkrankten ist zum Teil sehr stark eingeschränkt. Für manche ist das
tägliche Leben richtig mühsam“, berichtet Dumberger. Treppen steigen, die
Spülmaschine ausräumen, Socken anziehen – all das wird für Betroffene zur
Schwerstbelastung.
Lippenbremse für mehr Luft
Damit sie bei solchen Tätigkeiten nicht unter ständiger Atemnot leiden, übt
Dumberger mit seinen Patienten Techniken wie die Lippenbremse, die das
Ausatmen verlängert und die Atemluft länger verfügbar hält. Und er zeigt
ihnen Körperstellungen, die das Luftholen erleichtern. Dazu kommt
körperliches Training. Dumberger: „Patienten sind häufig ganz erstaunt, wie
viel mehr sie nach drei bis vier Wochen bereits leisten können.“
Solche spezifischen Ãœbungen brauchen gesunde Menschen nicht. Sie
bewältigen ihren Alltag meist, ohne außer Atem zu kommen, und dürfen auf
ihre Reflexe vertrauen. Denn: „So richtig falsch machen können wir beim
Atmen nichts“, sagt Dr. Uta Butt, Ärztin und Geschäftsführerin der Deutschen
Atemwegsliga. Ihr einziger Ratschlag: durch die Nase atmen. „Dort reinigen
Härchen und Schleimhäute die Luft, befeuchten und wärmen sie. So kommt
es seltener zu Infekten.“
Trotzdem könnten auch Gesunde von Atemübungen profitieren, so
Dumberger. „Manche Menschen atmen zu lange ein und zu schnell aus.“ Er
empfiehlt, das Einatmen nach der Belastung zu richten und die Luft nicht zu
gepresst wieder hinauszulassen.
Den Takt selbst vorgeben
Doch bewusstes Atmen kann noch mehr, als bloß genug Sauerstoff in unsere
Blutbahnen zu befördern. Es führt zu mehr Leistungsfähigkeit und mehr
Wohlbehagen. Egal ob Yoga, Meditation oder Qigong – bewusstes Atmen ist
nicht umsonst ein wesentlicher Teil vieler Entspannungsmethoden. Sie alle
machen sich das Zusammenspiel von Atmen und Herzfrequenz zunutze. So
helfen langsames Ausatmen und längere Atempausen dabei, den Körper in
einen ruhigeren Zustand zu versetzen.
Auch beim Sport kommen Lufthol- Techniken zum Einsatz. Mit
verschiedenen Gerätschaften können Athleten etwa ihre Atemmuskulatur
trainieren. So verhindern sie, dass Zwischenrippen-, Brust- und
Lendenmuskeln vorzeitig ermüden. Atemübungen verkürzen die
Erholungszeit, verbessern die Ausdauer, beschleunigen den Laktatabbau. Das
legen Studien nahe.
Entspannung und Leistungssteigerung – Robert Woltmann, der deutsche Vizemeister
im Apnoetauchen, nutzt beide Effekte. Bevor er zum Training an
den Beckenrand tritt, zieht er sich in eine ruhige Ecke zurück. Dehnt seinen
Brustkorb und die Lunge, beobachtet seine Atmung. Ein, Pause, aus, Pause.
Ein, Pause, aus, Pause.
„Die Übungen helfen mir, meine Mitte zu finden. Sie entspannen mich“, sagt
Woltmann. Beim Apnoetauchen sei das entscheidend. Ist er Minuten später
wieder aufgetaucht, hat der Atem-Profi gelernt, schnell in seinen Rhythmus
zurückzufinden. Ein, Pause, aus, Pause. Ein, Pause, aus, Pause.
Lisa Meyer
04.05.17